Peak end rule oder: wie wir uns an Schmerzen erinnern
Abbildung 1: Darmspiegelung mit Angabe der erlebten Schmerzstärke und einer Dauer von etwa 24 Minuten
Abbildung 2: Darmspiegelung mit Angabe der erlebten Schmerzstärke und einer Dauer von etwa 12 Minuten
Die Darmspiegelung bei Patient 1 dauerte etwa 24 Minuten, die bei Patient 2 etwa 12 Minuten. Die „Masse“ der erlebten Schmerzen dieser Patienten ist gleich der Fläche unter der Schmerzkurve. Eindeutig hat Patient 1 mehr gelitten als Patient 2. Er hat in der Summe etwa dreimal so viel Schmerz erfahren als Patient 2 (berechnet als Stärke mal Dauer). Und doch:
Im Nachhinein werden beide Patienten berichten, dass sie in etwa die gleichen Schmerzen hatten. Wie kann das sein und welche Mechanismen wirken hier? Bei der retrospektiven Beurteilung von schmerzhaften Erfahrungen (aber auch von schönen Erlebnissen) unterliegen wir offenbar schweren Einschätzungsfehlern – unser Erinnerungsvermögen berücksichtigt nicht die Dauer von Schmerzen. Dieser Effekt wird auch als duration neglect bezeichnet. Stattdessen spielen zwei andere Parameter bei der retrospektiven Beurteilung von Schmerzen eine zentrale Rolle:
- der maximal empfunden Schmerz bei einer Behandlung (peak)
- die Schmerzhöhe am Ende der Behandlung (end)
Vereinfacht ausgedrückt addiert unser Erinnerungsvermögen diese beiden Werte und errechnet aus dem Mittelwert die erinnerte Schmerzqualität einer Behandlung. Für den praktizierenden Zahnarzt ist dieser Mechanismus von großer Bedeutung, weil die Erinnerung des Patienten, die er mit der letzten Zahnarztbehandlung in Zusammenhang bringt, häufig über die weitere Behandlung entscheidet. Verbindet der Patient die letzte Zahnarztbehandlung mit großen Schmerzen, so besteht die reale Gefahr, dass er nicht weiter kommt und die Behandlung abbricht. Folgerichtig sollte alles dafür getan werden, dass der Patient potentiell schmerzhafte oder unangenehme Behandlungsschritte „vergisst“ oder ausblendet. Und hier sind wir bereits bei der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnisse.
Zwei Möglichkeiten bieten sich an, um die Schmerzerinnerung zu überlisten:
- Der Zahnarzt kennt die potentiell schmerzhaften Behandlungsabschnitte (peaks) und kann hier vorbeugend tätig werden, indem er den Patienten währenddessen stark verbal ablenkt. Bewährt haben sich hier spannende, mit einem energischen Unterton versehene Geschichten (z.B. Szenen von Flucht, Kampf oder Wettkampf), die beim Patienten Identifikationsprozesse anregen und hierdurch einen maximalen Dissoziationsvorgang fördern.
- Am Ende der Behandlung (end) Suggestionen zur gezielten Amnesie präsentieren, um das Erlebte in Vergessenheit zu drängen.
Gelingt es mittels Hypnose die Rekonstruktionsfähigkeit schmerzbezogener Behandlungsschritte so zu überlisten, dass der Patient sich nur noch diffus erinnern kann, so hat man viel gewonnen. Im inneren Dialog des Patienten gibt es nur keine Katastrophendialoge mehr, die selbstverstärkend Angst erzeugen und hierdurch weitere, medizinisch notwendige Behandlungsschritte erschweren. Stattdessen erlebt der Patient so etwas wie frei flottierende Versatzstücke seiner Behandlung, leicht umnebelt und dadurch weniger affektiv bedrohlich. Da die hypnotische Behandlung eine Fülle unterschiedlicher Möglichkeiten bietet, wie man punktgenau Erlebnisinhalte amnestisch werden lassen kann (kein Medikament kann das!) ist sie ein hervorragendes Mittel, hier dem Patienten zu helfen.
Mittels Überblendungssuggestionen, wie z.B. Umschreibungen von aufziehendem Nebel, einsetzendem Schneefall, rissig werdenden Eindrücken oder sich in Auflösung begriffener Erinnerung, kann man leicht am Ende einer Behandlung Amnesie hervorrufen. Oft reicht es bereits, wenn es gelingt, auch nur einen Teil des potentiell schmerzhaften Geschehens amnestisch einzukapseln – in jedem Fall hilft es dem Patienten und nur darauf kommt es an.
Literatur:
Spitzer, M: Vom Sinn des Lebens. Wege statt Werke: Aufhören, wenn es am schönsten ist. Schattauer Verlag 2007, p171-176.
Redelmeier DA, Kahneman D. Patient`s memories of painful medical treatments: Real-time and retrospective evaluations of two minimally invasive procedures. Pain 1996; 3-8.